Seit nunmehr 14 Jahren steht er vor der Kunsthalle und wird
von Kindern gerne mal als Klettergerüst umfunktioniert, während die meisten
Erwachsenen einen sorgsamen Bogen um ihn machen (wie beschrieben in einem
Artikel von Tom Bullmann: Das Kunstwerk „Großer Nagelkopf II“ von Rainer Kriester, welches direkt vor
der Kunsthalle Osnabrück steht (wie es dort hingekommen ist, können Sie hier nachlesen)
und oft als ihr „Markenzeichen“ erwähnt wird. Gleichwohl ist auf der
offiziellen Internetseite der Kunsthalle keinerlei Information oder gar eine
Erwähnung zu finden. Der folgende Gedankenfluss soll dazu dienen, verschiedene
Aspekte des Kunstwerks zu beleuchten.
Wegen dieser Merkmale ordnet der Betrachter dem Kunstwerk direkt eine Vorder- bzw. Rückseite zu, was daran liegen mag, dass wir konditioniert sind, Menschen ins Gesicht zu blicken. Ein tatsächliches in-die-Augen-schauen erlaubt die Skulptur jedoch nicht, da oberhalb des Mundes keine Augen die Kopfform komplementieren, sondern eine keilförmige Zuspitzung, die an ein Visier oder eine Maske erinnert und so der Anschein einer Nase entsteht. Die Zuspitzung sowie die sich darauf befindende Fuge erzeugt außerdem die Wirkung einer Teilung des Gesichts: gäbe es Augen, würde sie wahrscheinlich in zwei unterschiedliche Richtungen schauen.
Die imaginativen Sinneswahrnehmungen der Skulptur sind also:
nicht sehen, nicht riechen aber hören und sprechen – wenngleich der geöffnete
Mund eher an einen stummen Schrei erinnert, der somit Inneres nach außen
dringen lässt. Die großen Ohren, die direkt ins Auge fallen, unterstreichen die
Bedeutung des Hörens: der passivste unserer Sinne, der aber 24 Stunden am Tag
aktiv ist und unsere erste menschliche Sinneserfahrung formt. Er funktioniert als wichtige
Kommunikationsinstanz zwischen dem Selbst und seiner Umgebung. Anders als beim
Sprechen, besteht hier jedoch die Kommunikationsrichtung von innen nach außen.
Wir können die Augen schließen, die Ohren jedoch bleiben stets offen und der
Umgebung ausgesetzt. Diese Passivität des Kunstwerks, erzeugt, in Kombination
mit den durchbohrenden Nägeln, ein Gefühl von Verletzlichkeit und Ohnmacht, das
unterbewusst auf den Betrachter übergeht.
Auf Höhe des Visiers wird der Kopf durch Nägel unterbrochen,
die horizontal in zwei Richtungen die Form durchbohren. Die Gewalteinwirkung
ist unverkennbar. Die Nägel sind riesig, nicht nur im Vergleich zum Betrachter,
sondern auch innerhalb der Proportionen des Kunstwerks und schrecken so manchen
Betrachter davon ab, sich näher an die Skulptur zu wagen. Der Nagel selbst
besitzt schon eine enge Assoziation mit dem Wort „Kopf“, da der Metallstift
eines Nagels fast immer durch einen Nagelkopf ergänzt wird, welcher wiederum
dazu dient die Treffsicherheit und Krafteinwirkung zu erhöhen. Gleichzeitig
aber erleichtert der Nagelkopf eine Entfernung des Nagels. Auch in der
Literatur sind Verbindungen von Kopf und Nagel zu finden – das bekannteste Beispiel
stammt sicherlich aus L. Frank Baums Der
Zauberer von Oz: der Zauberer füllt den Kopf der Vogelscheuche mit Nägeln
und Schrauben, um ihr Verstand zu schenken. Doch besonders im alltäglichen
Sprachgebrauch werden Nagel und Kopf gerne zusammengebracht: die Redewendungen
„den Nagel auf den Kopf treffen“ und „Nägel mit Köpfen machen“ haben beide eine
durchaus positive Konnotation. Das scheint in Bezug auf die Statue gegenteilig
zu sein, was wiederum passt, da der Künstler schließlich Köpfe mit Nägeln macht.
Rainer Kriester (1935-2002) ist vor allem bekannt für seine
Kopfskulpturen, die er in vielfältiger Weise während seiner Lebzeiten
anfertigte (eine ausführliche Biographie können Sie hier einsehen).
Köpfe bilden den Mittelpunkt seines Schaffens, doch sind es immer wieder Köpfe
die verletzt, durchbohrt, eingesperrt, verdeckt, maskiert sind. Kriester war
ein wahrhaftiger Bild-Hauer, der sich stets auf die Auseinandersetzung mit dem
Material einließ – und damit auch auf dessen Widerstand. Warum also der Kopf?
In vielen Kulturen gilt der Kopf als Zentrum des Menschen, als Sitz des
Daseinsgefühls, unserer Identität, unserer Gedanken und Gefühle – „cogito ergo
sum“, wie Descartes es formulierte. Vielleicht ist deshalb jegliche Berührung
des Kopfes eine sehr intime Geste – als bedeutete diese einen direkten Zugang
zum Selbst des Anderen. Somit scheint auch eine Verletzung des Kopfes eine
direktere Verletzung des „Ichs“ zu sein als beispielsweise eine Verletzung der
Hand. Die Verletzung wird also noch brutaler, noch gewaltsamer, weil sie
gleichzeitig das „Ich“ durchdringt. Das Visier, das traditionell den Kopf
schützen soll, wirkt bei längerer Betrachtung einschränkend und erblindend –
ein Maske hinter der das Individuum verschwindet.
Eine Interpretation soll an dieser Stelle bewusst nicht
vorgenommen werden - um es mit Rainer Kriesters eigen Worten zu sagen: „Denkt
was ihr wollt“. Sehen Sie es sich also selbst einmal an - ein Besuch lohnt
sich!
Für weiterführende Informationen über das Werk Kriesters:
Für weiterführende Informationen über das Werk Kriesters:
Schmied, Wieland. „Rainer Kriester, Köpfe und Stelen: das
plastische Werk 1970-1996“. München: Hirmer, 1996.s & Schmied, Wieland. „Rainer Kriester. Skulpturen. Werkverzeichnis
1996-2002“. München: Hirmer, 2003.
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