Mittwoch, 30. März 2016

Ein Gedankenfluss


Seit nunmehr 14 Jahren steht er vor der Kunsthalle und wird von Kindern gerne mal als Klettergerüst umfunktioniert, während die meisten Erwachsenen einen sorgsamen Bogen um ihn machen (wie beschrieben in einem Artikel von Tom Bullmann: Das Kunstwerk „Großer Nagelkopf II“ von Rainer Kriester, welches direkt vor der Kunsthalle Osnabrück steht (wie es dort hingekommen ist, können Sie hier nachlesen) und oft als ihr „Markenzeichen“ erwähnt wird. Gleichwohl ist auf der offiziellen Internetseite der Kunsthalle keinerlei Information oder gar eine Erwähnung zu finden. Der folgende Gedankenfluss soll dazu dienen, verschiedene Aspekte des Kunstwerks zu beleuchten.

Die Skulptur aus dunkler Bronze hat keinen Sockel und steht somit in direkter Verbindung zum Boden. Ihre halbrunde, keilförmig zulaufende, massive Form (230x135x90cm) erinnert an einen sehr schmalen, langgezogenen Kopf - nicht zuletzt aufgrund der seitlich angebrachten, groß geformten Ohren und einer mundähnlichen Öffnung.
Wegen dieser Merkmale ordnet der Betrachter dem Kunstwerk direkt eine Vorder- bzw. Rückseite zu, was daran liegen mag, dass wir konditioniert sind, Menschen ins Gesicht zu blicken. Ein tatsächliches in-die-Augen-schauen erlaubt die Skulptur jedoch nicht, da oberhalb des Mundes keine Augen die Kopfform komplementieren, sondern eine keilförmige Zuspitzung, die an ein Visier oder eine Maske erinnert und so der Anschein einer Nase entsteht. Die Zuspitzung sowie die sich darauf befindende Fuge erzeugt außerdem die Wirkung einer Teilung des Gesichts: gäbe es Augen, würde sie wahrscheinlich in zwei unterschiedliche Richtungen schauen. 

Die imaginativen Sinneswahrnehmungen der Skulptur sind also: nicht sehen, nicht riechen aber hören und sprechen – wenngleich der geöffnete Mund eher an einen stummen Schrei erinnert, der somit Inneres nach außen dringen lässt. Die großen Ohren, die direkt ins Auge fallen, unterstreichen die Bedeutung des Hörens: der passivste unserer Sinne, der aber 24 Stunden am Tag aktiv ist und unsere erste menschliche Sinneserfahrung formt. Er funktioniert als wichtige Kommunikationsinstanz zwischen dem Selbst und seiner Umgebung. Anders als beim Sprechen, besteht hier jedoch die Kommunikationsrichtung von innen nach außen. Wir können die Augen schließen, die Ohren jedoch bleiben stets offen und der Umgebung ausgesetzt. Diese Passivität des Kunstwerks, erzeugt, in Kombination mit den durchbohrenden Nägeln, ein Gefühl von Verletzlichkeit und Ohnmacht, das unterbewusst auf den Betrachter übergeht.

Auf Höhe des Visiers wird der Kopf durch Nägel unterbrochen, die horizontal in zwei Richtungen die Form durchbohren. Die Gewalteinwirkung ist unverkennbar. Die Nägel sind riesig, nicht nur im Vergleich zum Betrachter, sondern auch innerhalb der Proportionen des Kunstwerks und schrecken so manchen Betrachter davon ab, sich näher an die Skulptur zu wagen. Der Nagel selbst besitzt schon eine enge Assoziation mit dem Wort „Kopf“, da der Metallstift eines Nagels fast immer durch einen Nagelkopf ergänzt wird, welcher wiederum dazu dient die Treffsicherheit und Krafteinwirkung zu erhöhen. Gleichzeitig aber erleichtert der Nagelkopf eine Entfernung des Nagels. Auch in der Literatur sind Verbindungen von Kopf und Nagel zu finden – das bekannteste Beispiel stammt sicherlich aus L. Frank Baums Der Zauberer von Oz: der Zauberer füllt den Kopf der Vogelscheuche mit Nägeln und Schrauben, um ihr Verstand zu schenken. Doch besonders im alltäglichen Sprachgebrauch werden Nagel und Kopf gerne zusammengebracht: die Redewendungen „den Nagel auf den Kopf treffen“ und „Nägel mit Köpfen machen“ haben beide eine durchaus positive Konnotation. Das scheint in Bezug auf die Statue gegenteilig zu sein, was wiederum passt, da der Künstler schließlich Köpfe mit Nägeln macht.

Rainer Kriester (1935-2002) ist vor allem bekannt für seine Kopfskulpturen, die er in vielfältiger Weise während seiner Lebzeiten anfertigte (eine ausführliche Biographie können Sie hier einsehen). Köpfe bilden den Mittelpunkt seines Schaffens, doch sind es immer wieder Köpfe die verletzt, durchbohrt, eingesperrt, verdeckt, maskiert sind. Kriester war ein wahrhaftiger Bild-Hauer, der sich stets auf die Auseinandersetzung mit dem Material einließ – und damit auch auf dessen Widerstand. Warum also der Kopf? In vielen Kulturen gilt der Kopf als Zentrum des Menschen, als Sitz des Daseinsgefühls, unserer Identität, unserer Gedanken und Gefühle – „cogito ergo sum“, wie Descartes es formulierte. Vielleicht ist deshalb jegliche Berührung des Kopfes eine sehr intime Geste – als bedeutete diese einen direkten Zugang zum Selbst des Anderen. Somit scheint auch eine Verletzung des Kopfes eine direktere Verletzung des „Ichs“ zu sein als beispielsweise eine Verletzung der Hand. Die Verletzung wird also noch brutaler, noch gewaltsamer, weil sie gleichzeitig das „Ich“ durchdringt. Das Visier, das traditionell den Kopf schützen soll, wirkt bei längerer Betrachtung einschränkend und erblindend – ein Maske hinter der das Individuum verschwindet.

Eine Interpretation soll an dieser Stelle bewusst nicht vorgenommen werden - um es mit Rainer Kriesters eigen Worten zu sagen: „Denkt was ihr wollt“. Sehen Sie es sich also selbst einmal an - ein Besuch lohnt sich!



Für weiterführende Informationen über das Werk Kriesters:
Schmied, Wieland. „Rainer Kriester, Köpfe und Stelen: das plastische Werk 1970-1996“. München: Hirmer, 1996.s        &        Schmied, Wieland. „Rainer Kriester. Skulpturen. Werkverzeichnis 1996-2002“. München: Hirmer, 2003.

Für mehr Informationen zu Kunstwerken in Osnabrück, besuchen Sie den Blog "Erinnern und Vergessen"
 

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